Hier geht es zum

 Antiquariat Neue Kritik

 Stöbern Sie in Tausen-
 den von Büchern.

 

 

 

 

Datenschutz

»Gegen den schönen Schein«

In seiner ersten Phase leitet sich das Programm des 1965 vom Bundesverband des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) gegründeten Verlages zunächst unmittelbar aus den internen theoretischen und politischen Diskussionen ab.

 

1965 erscheint »Die Akkumulation des Kapitals« von Rosa Luxemburg in einer Auflage von 300 Exemplaren und eröffnet die Reihe »Archiv sozialistische Literatur«, die den Mitgliedern des SDS die Lektüre von wichtigen theoretischen Texten der 20er und 30er Jahre ermöglicht. Es folgen Werke von Leo Trotzki, Nikolai Bucharin, Henryk Grossmann, Susanne Leonhard, Friedrich Pollock, Fritz Sternberg, Leo N. Kritzman, Max Raphael, Victor Serge, Ignazio Silone und anderen.

 

Mit dem Tagungsband »Neokapitalismus, Rüstungswirtschaft, Westeuropäische Arbeiterbewegung« beginnt 1966 die Reihe »Probleme sozialistischer Politik«, die Analysen zu aktuellen politischen Fragen zur Diskussion stellt, unter anderem von Ernest Mandel, Pierre Jalée, Ferenc Janossy, Harry Magdoff und Tony Cliff.

 

Bewegte Zeiten

Im Zuge der Studentenbewegung der Jahre 1967-1969 finden die Publikationen des Verlages zunehmend interessierte Leser. Setzte man anfangs höchstens 500 Exemplare pro Titel ab, werden nun monatlich 3000 Bände von Ernest Mandels »Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie« verkauft.

 

Als Reimut Reiche 1968 nicht nur die Klassenkampffrage, sondern auch die der Sexualität stellt, ist der nächste Bestseller da. Höhepunkt dieser Phase sind zwei antiautoritäre »Renner« aus Dänemark: »das kleine rote schülerbuch« und die »sexualinformation für jugendliche« von Bent H. Claesson. Die Bücher sorgen für Schlagzeilen, Protest und Umsatz.

 

Dem Ansinnen, aus dem theoretisch ambitionierten Verlag eine Druckinstanz für die antiautoritäre Protestbewegung zu machen, widersetzen sich die drei Verlagsgründer (Helmut Schauer, Hartmut Dabrowski und Helmut Richter) vehement. Daran ändert auch der überraschend über den Verlag hereingebrochene Erfolg nichts. Der erwirtschaftete Gewinn fließt in Reprints aus den 20er Jahren: in die zwölfbändige, 10.000 Seiten umfassende Zeitschrift »Die Internationale«, in die Illustrierten Geschichten der Deutschen und der Russischen Revolution sowie in Otto Rühles »Sitten- und Kulturgeschichte des Proletariats«.

 

Nach der Revolte

Der Prozess der immer stärker werdenden ideologischen Fraktionierung im SDS führt 1970 zur Auflösung des Verbandes. Der Verlag - vorübergehend von Hartmut Dabrowski allein geführt, bis 1972 Dorothea Rein hinzukommt - gerät an den Rand einer Bewegung, die sich in ML-Gruppierungen, DKP-Anhängern, Trotzkisten, Spontis und andere aufsplittet. In diese Zeit fallen die Veröffentlichung der Erinnerungen von Karl Retzlaw, die posthume Herausgabe der Schriften von Hans-Jürgen Krahl sowie der Reprint »Die Frau in der Karikatur« von Eduard Fuchs.

 

Mit Hartmut Dabrowski verlässt Mitte der 70er Jahre der letzte Verlagsgründer das Haus. Die Neue Kritik wird seitdem hauptverantwortlich von Dorothea Rein geführt, unterstützt von jeweils ein bis zwei Mitarbeitern.

 

Die Aufarbeitung der Studentenbewegung und deren Folgen schlägt sich bis heute in zahlreichen Publikationen nieder; so in der von Frank Boeckelmann und Herbert Nagel herausgegebenen »Subversiven Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern« (1976, veränderte Neuauflage 2002), in den Büchern von Wolfgang Kraushaar: »Autonomie oder Getto? Kontroverse über die Alternativbewegung« (1978), »Revolte und Reflexion« (1990) und »Linke Geisterfahrer. Denkanstöße für eine antitotalitäre Linke« (2001) sowie in der Arbeit von Michaela Karl über Rudi Dutschke (2003). Zum Thema des »bewaffneten Kampfes« in der BRD wird von Verlagsseite mehrfach interveniert: »Ein deutscher Herbst. Zustände 1977« (1978, veränderte Neuauflage 1997), »Der blinde Fleck. Die Linke, die RAF und der Staat« (1987) und »Spätlese. Texte zu RAF und Knast« (1988) von Klaus Jünschke.

 

»Frauenliteratur«

Seit Mitte der 70er Jahre wird Literatur von und über Frauen zu einem eigenen Programmbereich: Verlegt werden biographische Texte von bzw. zu Sybilla Aleramo, Phoolan Devi, Adalgisa Conti sowie Bildbände über die Künstlerinnen Frida Kahlo, Tina Modotti, Camille Claudel, Toyen. Der 1979 veröffentlichte Band »Frida Kahlo« von Raquel Tibol ist die weltweit erste Monographie der mexikanischen Malerin. Vor diesem Hintergrund entsteht 1995 auch die Reihe »apropos«, in der unter anderem Lee Miller, Leonora Carrington, Edith Stein, Helena Rubinstein, Ethel Rosenberg, Rita Hayworth, Clara Haskil und Margarete Buber-Neumann porträtiert werden.

 

Eine theoretische Auseinandersetzung mit der Geschlechterfrage findet in »Die Liebe der Frauen« von Margrit Brückner und in »Nicht Ich« von Christina von Braun statt.

 

Blick nach Osten

Seit Anfang der 80er Jahre befassen sich die Publikationen verstärkt mit der Vergangenheit und der Gegenwart des »dark continent« Osteuropa. 1983 erscheinen die literarischen Reportagen der polnischen Autorin Hanna Krall. Das Werk dieser bedeutenden Chronistin des Holocaust ist mittlerweile mit zehn Bänden im Verlag Neue Kritik vertreten. Die Feuilletons und Reportagen der tschechischen Journalistin Milena Jesenská werden 1984 verlegt. Es folgen Gedichte von Wladimir Wyssotzkij und Aleksander Galitsch sowie Prosa von Giorgio und Nicola Pressburger, Henryk Grynberg, Christo Saprjanov, Marek Hlasko und des als große Entdeckung gefeierten Ungarn Béla Zsolt. Historische Essays von Istvan Bibo, Jenö Szücs, Milan Simecka und Boris Nikolajewski vertiefen die Einblicke.

 

1990 erfährt dieser Programmschwerpunkt eine wichtige Ergänzung durch die Halbjahreszeitschrift »Transit«, die vom »Institut für die Wissenschaften vom Menschen« in Wien herausgegeben wird. Das Periodikum trägt der mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs erwachten Neugier und dem wachsenden Informations- und Diskussionsbedarf Rechnung.

 

Jüdische Gegenwart und Vergangenheit

Mehrere Veröffentlichungen sind aus Diskussionsrunden im Verlag hervorgegangen, wie etwa die »Verlängerung von Geschichte. Deutsche, Juden und der Palästinakonflikt« (1983). Der durch diesen Band entstandene Kontakt zu Mitgliedern einer linken jüdischen Gruppe in Frankfurt hat zur Folge, dass die Zeitschrift »Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart« von Micha Brumlik, Dan Diner, Gertrud Koch, Cilly Kugelmann und Martin Löw-Beer ab 1986 in der Neuen Kritik herausgegeben wird.

Mit der jüdischen Vergangenheit beschäftigen sich zahlreiche Publikationen: Die Gespräche mit jüdischen Kämpfern im Warschauer Ghetto von Anka Grupinska, die Aufzeichnungen aus dem Ghetto Lodz von Oskar Rosenfeld, die lange Zeit nicht zugängliche zweibändige Dokumentation über den Auschwitz-Prozess von Hermann Langbein sowie der Band »Birobidshan. Stalins vergessenes Zion« von Robert Weinberg.

 

Über Gegenwart und Vergangenheit hinaus weisen die Talmud-Lektionen von Emmanuel Levinas. Sie belegen dessen beharrlichen Versuch, eine rationale Metaphysik zu formulieren.

 

Literatur als Zeugnis

Zahlreiche Werke des Verlagsgrogramms legen Zeugnis von den Hoffnungen und den Schrecken des 20. Jahrhunderts ab, das von den Erfahrungen der zwei großen totalitären Regime bestimmt war, und bestärken uns in der Annahme, dass Schriftsteller die besseren Historiker sind. Hanna Krall und Béla Zsolt stellen den Holocaust und dessen Folgen ins Zentrum ihres literarischen Werkes, die Amerikaner Kay Boyle und John Dos Passos berichten über die Nachkriegszeit in Deutschland, Miron Bialoszewski über den Warschauer Aufstand 1944, Hermann Grab über die Jahre des Exils und Eva Hofmann über die innere Erfahrung der Emigration von Ost nach West.

 

Gegen den schönen Schein modischer Philosophen und Trends, dem so viele ehemals linke Kleinverlage erlegen sind, hat es das Haus im Frankfurter Kettenhofweg 53 vermocht, im Politischen wie im Literarischen einen Stil und eine »Linie« zu kultivieren, die nicht auf die öde Affirmation des ohnehin Gängigen hinauslaufen.

Hans-Martin Lohmann (1990 zum 25jährigen Bestehen)