Editorial der ersten Ausgabe (1986)
Universalismus und Nabelschau: die Verschränkung beider Tendenzen ist ein charakteristischer Zug säkularer jüdischer Geschichte. Sich dazu auserwählt denken, die Menschheit umfassend zu vereinen; aber auch die ironische Distanz zu den eigenen und die panische zu fremden weltverändernden Attitüden, die Relativierung der eigenen Wichtigkeit im jüdischen Witz: auf uns hat man gewartet! Machen wir, daß wir wegkommen!
Genauer besehen handelt es sich um eine besondere Ausprägung zweier Züge der Moderne, mit denen wir sympathisieren: universalistische Denkweise (jeder soll die gleichen Rechte haben) und die Institutionalisierung von Reflexion über individuelle und kollektive Besonderheit und Bestimmung. Hier kommt es auf produktive Bündnisse zwischen der Fähigkeit zu überlegen, zu entscheiden und der Wiederentdeckung von Traditionen an.
Jahrhundertelang waren Juden politisch machtlos. Das hat seine bekannt tragischen Seiten. Adorno und Horkheimer spielen darauf an, wenn sie schreiben:
»Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde. In ihnen wird die Ohnmacht dessen demon-striert, was ihnen Einhalt gebieten könnte, der Besinnung, des Bedeutens, schließlich der Wahrheit.« (Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung)
In diesem Zitat drückt sich aber auch die positive Seite der Tradition politischer Machtlosigkeit aus: gemeint ist die unabhängige Rolle des Intellektuellen, der nicht mit den Herrschenden paktiert, sich keiner politischen Fraktion verschreibt, aber durch Artikulation dessen, was er für richtig hält, am politisch-gesellschaftlichen Leben teilhat.
Mit »Babylon« wollen wir deshalb den Versuch unternehmen, wieder einen intellektuellen Diskurs zu jüdischen Problemen zu etablieren. Nicht so sehr als Vertreter einer je nach Perspektive religiösen/sozialen/ethnischen Minderheit wollen wir uns äußern, sondern als universalistisch orientierte Intellektuelle, die Herkunftspartikularität reflektierend überschreiten wollen, ohne sie zu leugnen. Wenn wir eine Tradition im Auge haben, dann ist es allenfalls die des »Jüdischen Intellektuellen«, eine Rolle, die heute am ehesten noch in der amerikanischen »jewish community« tragfähig ist, auf deutschem Boden aber erst wieder erobert werden muß. Die Zeichen der Zeit mögen dagegen stehen, der bequeme Kompromiß, daß sich auf deutschem Boden Juden allenfalls zu enggefaßten historischen Bereichen äußern und damit selbst noch einmal den Ausschluß aus der gegenwärtigen Gesellschaft nachvollziehen, scheint fest etabliert. Von der konkreten historischen Erfahrung ausgehend, daß das innere Maß an Freiheit einer Gesellschaft an ihrem Verhältnis zu den Zumutungen intellektueller Kritik, insbesondere wenn sie von den jüdischen Randzonen her formu-liert wird, sich bestimmen läßt, betrachten wir es als eine mehr als äußere Provokation, wenn wir das Gespenst des jüdischen Intellektuellen noch einmal aus der Versenkung holen.
Die Zeitschrift »Babylon« will sich zum einen mit jüdischen Themen im engeren, im partikularen Sinne beschäftigen; zum anderen will sie sich mit dem befassen, was weitestgehend und universalistisch von Juden und dem Judentum ausgeht, beziehungsweise ihm jeweils zugeschrieben wird. Die Haltungen gegenüber den Juden - das lehrt die Erfahrung - weisen weit über das konkrete Verhältnis von Juden und Nichtjuden hinaus. Man kann sagen, daß diese Haltungen ein Indikator für die jeweiligen politischen und kulturellen Befindlichkeiten einer Gesellschaft sind.
In der christlich-abendländischen Zivilisation artikulieren sich Sinnkrisen immer auch als Krisen im Verhältnis von Juden und Nichtjuden; das »Jüdische« wird leicht zur Metapher für eine schwer zu durchschauende Moderne. Und so steht der Antisemitismus - wie bislang immer in der Geschichte - in keinem rechten Zusammenhang mit der jeweiligen Existenz von Juden. Gleichzeitig werden sie aber zu ersten Opfern jener Krisen.
Falsche Eindeutigkeit würde Komplexität übersehen: »Babylon« wird ein breites Spektrum von gegenwartsbezogenen Themen auffächern. Im Zentrum wird - wie könnte es auch anders sein - die Erinnerung an die Vergangenheit stehen, vor allem in der Bedeutung für das Verhältnis von Juden und Nichtjuden in Deutschland.
Die nächste Ausgabe von »Babylon« wird sich mit dem Thema »Historiographie und Erinnerung« befassen. Im Zentrum steht dabei die inzwischen aufgeflammte Auseinandersetzung um die Deutung von Nationalsozialismus und Holocaust unter bundesdeutschen Historikern.
Überflüssig zu betonen, daß »Babylon« nicht zuletzt auch seine Leser zu »Beiträgen zur jüdischen Gegenwart« einlädt.
Mit diesem Editorial startete im Oktober 1986 die Zeitschrift. Als Herausgeber zeichneten Dan Diner, Susann Heenen-Wolff (bis Heft 12), Gertrud Koch, Cilly Kugelmann und Martin Löw-Beer. Ab Heft 4 (1988) kamen Micha Brumlik und ab Heft 19 (1999) Lena Inowlocki und Yfaat Weiss hinzu.